Sonntag, 24. März 2013

Die ersten erkenntnistheoretischen Prinzipien


Woraus besteht unser Wissen? Die Antwort auf diese Frage recht einfach: „Unsere Erkenntnis besteht aus mit einander verbundenen und koordinierten Urteilen. Das fortschreitende Leben des Geistes bewegt sich durch regulären Prozess in dem Urteile auf Grund anderer Urteile gebildet werden, so dass die Urteile die Haupt- und Zentralakte des Geistes sind“. (Maurice de Wulf: The System of Thomas Aquinas, Dover 1959, Neuauflage Editiones scholasticae 2012, S. 26).  Anders gesagt, besteht alles Wissen in bestimmten Aussagen, Sätzen oder Propositionen, die miteinander verbunden sind. Nun gibt es, nach aristotelisch-scholastischer Auffassung aber bestimmte Aussagen, die sich von der großen Masse der Aussagen unterscheiden. Diese Aussagen liegen sowohl der psychologischen Entwicklung, als auch die erkenntnistheoretischen und logische Entwicklung zugrunde. Sie werden in der Philosophie der Scholastik als erste Prinzipien bezeichnen, weil sie jede andere Aussage und damit jedes Wissen bestimmen.






Das oberste dieser Prinzipien, das einen absoluten Vorrang vor allen anderen Prinzipien und jeder anderen Erkenntnis hat, ist das sogenannte Kontradiktionsprinzip. Es wird auch als Nichtwiderspruchsprinzip oder als Satz vom Widerspruch bezeichnet. Es gibt unterschiedliche Formulierungen dieses Prinzips, das nicht nur die Erkenntnistheorie und Logik, sowie alles Wissen, sondern auch die Wirklichkeit und somit die Ontologie bestimmt. Es lautet, in einer üblichen Formulierung: Eine Entität kann nicht zugleich sein und nicht sein. Dies ist für jeden, der den Begriff „Entität“ versteht vollkommen offensichtlich.

Ein weiteres erstes Prinzip ist das Identitätsprinzip, das besagt, dass jede Entität mit sich selbst identisch ist, d.h. schlicht gesagt, dass jede Entität das ist, was sie ist. Es gibt verschiedene Versuche, dieses Prinzip auf das Kontradiktionsprinzip zurückzuführen.

Ein drittes oberstes Prinzip ist das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, sozusagen das Gegenteil vom „dritten Mann“. Es besagt, dass es kein Drittes, kein Mittleres zwischen Sein und Nicht-Sein gibt. Praktisch formuliert bedeutet dies, dass keine Frau „ein bisschen schwanger“ sein kann.

Über weitere Prinzipien wird gestritten – schon unter Scholastikern – ob diese als selbständige Prinzipien zu gelten haben, oder in den zuvor genannten Prinzipien enthalten sind. Ich nenne Sie trotzdem, da sie auf jeden Fall einleuchtend und hilfreich sind. Da ist zunächst das Prinzip vom zureichenden Grund, das in der scholastischen (nicht leibnitzschen Formulierung) besagt, dass jede Entität mit allen Elementen ausgestattet ist, die zu seiner Existenz erforderlich sind. Bei Leibnitz wird dieses Prinzip formuliert mit den Worten „Nichts ist ohne Grund“. Dieser, bzw. ein ähnlicher Satz wird aber in der Scholastik als Kausalprinzip bezeichnet, das auch ein erstes Prinzip ist und das lautet: Jedes nicht-notwendig Existierende existiert durch ein anderes Seiendes. Schon an der Formulierung erkennen Sie, dass beide Aussagen nicht identisch sind und auch nicht äquivalent.

Ein weiteres Prinzip ist das der Totalität, wonach das Ganze die Summe der Teile ist. Man kann noch eine ganze Reihe weiterer erster Prinzipien nennen, doch letztlich lassen sich diese alle auf die zuvor genannten zurückführen und sind insofern „zweite Prinzipien“. Ein Neuscholastiker hat sich die Mühe gemacht, alle scholastischen Prinzipien systematisch darzustellen und in einem knappen Buch zusammenzufassen. Dem Verlag Editiones Scholasticae ist zu danken, dass er dieses kleine Buch schon kurz nach der Gründung des Verlags neu herausgegeben hat: Bernard Wuellner: Summary of Scholastic Principles.

Was ist nun das Besondere dieser ersten Prinzipien, was sie von anderen Aussagen unterscheidet? Nun, auf den ersten Blick kann man sagen, dass diese Sätze unmittelbar einleuchten. Doch das hat einen guten Grund. Diese Prinzipien beruhen nicht auf Erfahrung, sie werden nicht gewonnen, indem wir uns in der Welt umschauen, verschiedene Dinge betrachten und dann zu dem Ergebnis kommen, dass z.B. etwas nicht zugleich sein und nicht sein kann. Natürlich sind die Begriffe, wie Ganzes, Teil, Ursache, Wirkung, Entität usw. durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen. Auch das Verständnis dieser Prinzipien wird durch die Erfahrung erleichtert, z.B. indem ich jemandem das Kontradiktionsprinzip dadurch erläutere, dass ich ihm sage, dass ich nicht gleichzeitig im Blog schreiben kann und mit 160 km/h auf der Autobahn fahren kann (was freilich kein kontradiktorischer Gegensatz ist).

Das Besondere der ersten Prinzipien besteht darin, dass die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat dieser Aussagen auf dem Inhalt der Begriffe selbst beruht, d.h. sich aus der Analyse der Begriffe selbst ergibt. Wenn ich den Begriff Sein oder Existenz oder Entität verstehe, dann verstehe ich damit von selbst das Gegenteil, die Nicht-Existenz und auch, dass beides nicht gleichzeitig sein kann. „Wenn ich sage A = A ergibt sich dieser Urteil allein aus der Überlegung dessen, was A ist (was auch immer dies sein mag) und nicht aus der Erfahrung. Weil dies nicht von der menschlichen Erfahrung abhängt, die nur das erfasst, was wirklich existiert, ist das Band der Einheit, das durch die Prinzipien ausgedrückt wird, unabhängig von der Existenz des gegenwärtigen Universums und in der Tat unabhängig von der Existenz aller Geschöpfe.“ (de Wulf, a.a.O.).

Diese ersten Prinzipien hören sich recht ähnlich an, wie die analytischen Urteile bei Immanueal Kant oder bei Leibnitz („Urteilen de jure“), doch sie unterscheiden sich davon. Zumindest gilt dies für die analytischen Urteile, bei denen das Prädikat des Satzes im Subjekt enthalten ist und die Kant deshalb als bloße Tautologien bezeichnet. Die Scholastiker kennen allerdings Urteile oder Prinzipien, bei denen das Prädikat nicht im Subjekt enthalten sind, die allerdings ebenso gewiss sind wie analytische Urteile, weil in dieser Sätzen, die in der Scholastik Axiome heißen, Subjekt und Prädikat notwendig zusammengehören, so, dass das Subjekt dieses Prädikat fordert. Die zuvor genannten Prinzipien gehören alle (vielleicht mit Ausnahme des Identitätssatzes) zu dieser Klasse von Aussagen. Und hier liegt der Unterschied zu Leibnitz und Kant, die die genannte Urteile entweder als analytisch, bzw. de jure bezeichnen oder als „synthetische Urteile apriori (Kant in Bezug zum Kausalprinzip).

Dies lässt sich am Kontradiktionsprinzip verdeutlichen. Durch die bloße Begriffsanalyse des Begriffs „Sein“ kommt man nicht zu dem Urteil, dass Sein und Nicht-Sein nicht gleichzeitig bestehen können, denn die Negation ist nicht in der Affirmation enthalten. Ähnliches gilt für das Kausalprinzip, das von David Hume in Frage gestellt wurde und das Kant dadurch zu retten versucht hat, dass er seine Gültigkeit in das Bewusstsein verlegt hat. Aus dem Begriff der „nicht-notwendigen Existenz“ lässt sich nicht ableiten, dass ein solches Existierendes eine äußere Ursache zu seiner Existenz fordert.

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