Dienstag, 23. Dezember 2014

Materia prima und sekundäre Materie

Die scholastische Philosophie spricht von zwei verschiedenen Arten der Materie, der materia prima, manchmal auf Deutsch auch als „Urmaterie“ bezeichnet, und der sekundären Materie. Sekundäre Materie ist eine Materie mit einer substanziellen Form, also all das, was wir im alltäglichen Sprachgebrauch als Materie bezeichnen, wie Holz, Eisen, Plastik, Wasser usw. Die sekundäre Materie ist die Grundlage der akzidentellen Veränderung. Wenn jemand aus Holz eine Weihnachtsfigur schnitzt, dann ist dies in ontologischer Hinsicht eine akzidentelle Veränderung, denn der bereits aus Materie und Form zusammengesetzte Ast eines Baumes wird eine Figur. Die Urmaterie, bzw. die materia prima hat absolut keine Form.




Die prima materia ist nicht ein irgendwie bestimmtes Ding. Sie ist vollkommen unbestimmt, reine Potenz für die Aufnahme der Form. Diese Materie ist die Grundlage der substanziellen Veränderung.

Obwohl die materia prima kein Ding ist, das man besichtigen könnte, weil es sie nicht irgendwo als solche gibt, ist die dennoch ein realer Bestandteil der Welt. Sie existiert aber nicht getrennt von der Form, ebenso wenig, wie die Potenz getrennt vom Akt existieren kann. Ohne jede Form würde die materia prima nicht existieren.

Wegen dieser schweren Vorstellbarkeit der Urmaterie und auch aus anderen Gründen gab es schon früh und bis in unsere Zeit von anderen philosophischen Ansätzen her Kritik an diesem Begriff. Diese kritischen Einwände können uns helfen, die materia prima besser zu verstehen. Wenn man keine Urmaterie als Grundlage der substanziellen Veränderung annimmt, gibt es zwei Alternativen, mit deren Hilfe man substanzielle Veränderungen zu erklären versucht. Zunächst kann man annehmen, dass es eine irgendwie rudimentäre Art der Materie gibt, die aber bereits eine Form hat oder dass es eine solche grundlegende Materie überhaupt nicht braucht, um Veränderungen zu erklären. Die erste Alternative findet sich bereits in der Scholastik selbst, z.B. bei Duns Scotus oder später bei Suarez, die zweite Alternative wird auch heute oft vertreten. Schauen wir uns die Argumente genauer an.

Die Alternative, mit einer bestimmten rudimentären Art der sekundären Materie die Veränderung zu erklären ist, besonders in Hinblick auf die Frage der Begrenzung, nicht möglich. Eine sekundäre Materie, welcher Art auch immer (Atome, subatomare Teilchen) hat eine Form. Was auch immer diese Form ist, es stellt sich dann die Frage, warum sie genau in der Weise begrenzt ist, wie sie es ist. Nehmen wir an, die rudimentäre Art der sekundären Materie bestehe aus Partikeln der Form F. Was begrenzt F in der raumzeitlichen Begrenzung die F hat? Wenn man auf eine noch grundlegendere sekundäre Materie als F verweist, entsteht dasselbe Problem mit dieser sekundären Materie. Eine Begrenzung der Form z.B. auf eine bestimmte raumzeitliche Lokalisierung erfordert eine völlig unbestimmte, rein potenzielle Materie. Kurz zusammengefasst lautet das Argument: Eine sekundäre Materie ist schon begrenzt, deshalb ist sie sekundär. Doch warum ist sie begrenzt? Durch eine andere sekundäre Materie? Aber wodurch ist diese begrenzt?

Es gibt auch ein Argument gegen die Auffassung, dass eine rudimentäre sekundäre Materie die Grundlage der Veränderung ist. Es gibt keinen empirischen Grund für die Annahme einer rudimentären sekundären Materie. Quarks z.B. können selbst substanziell verändert werden, worauf David Oderberg (2007, 64) hingewiesen hat. Es muss aber etwas geben, dass bei einer substanziellen Veränderung dieser Veränderung zugrunde liegt, denn sonst ist es keine Veränderung, sondern die totale Vernichtung des eines Dinges und die totale Neuentstehung eines anderen Dinges und das ist keine Veränderung. Nehmen wir hier wieder an, dass die rudimentäre sekundäre Materie aus bestimmten Partikeln der Form F besteht. Allein durch die Tatsache, dass diese Partikel die Form F haben und nicht G oder H wissen wir bereits, dass diese Partikel begrenzt sind, denn es sind F-Partikel und nicht gleichzeitig G- und H-Partikel. Es sind diese Partikel und nicht jene. Ihre Aktualität ist deshalb auf jeden Fall weniger als reine Aktualität. Nun existiert aber ein Ding, das weniger als reine Aktualität ist, nicht notwendigerweise, d.h. es könnte auch nicht existieren, es könnte zerstört werden und es muss auch irgendwann einmal nicht existiert haben. In diesem Fall muss es aber etwas geben, was diesen Veränderungen zugrunde liegt. Und wenn man dieses Zugrundeliegende in einer noch fundamentaleren Art rudimentärer sekundärer Materie sieht, verschiebt dies nur das Problem, denn an diese fundamentalere Materie kann man die gleiche Frage stellen.

Es gibt also keine Alternative zur prima materia auf der Grundlage einer rudimentären sekundären Materie. Doch man könnte einfach bestreiten, dass es bei der Veränderung eines zugrundeliegenden Prinzips bedarf, dass es etwas gibt, was bei aller Veränderung gleich bleibt. Diese Auffassung, die als „Aktualismus“ bezeichnet wird, ist in der Gegenwartsphilosophie vorherrschend. Doch eine solche Auffassung bestreitet schlicht, dass es überhaupt Veränderung gibt. Denn in diesem Fall besteht die Veränderung nicht darin, dass ein Ding eine Form verliert und eine andere annimmt und es etwas gibt, dass dabei zugrunde liegt, sondern das ein Ding vollständig zugrunde geht und ein Anderes zu existieren beginnt. Wenn z.B. Wasserstoff und Sauerstoff verbunden werden und die Form von Wasser annehmen, würden die Formen von Sauerstoff und Wasserstoff nicht nur ihre Form verlieren und die neue Form von Wasser annehmen, sondern auch die zugrundeliegende Materie würde vernichtet und Wasser würde unmittelbar an dessen Stelle treten.


Es war wieder David Oderberg (2007, 74) der gezeigt hat, dass ein Problem mit dieser Überlegung darin besteht, dass es das erste Gesetz der Thermodynamik verletzt, nach dem Energie weder erschaffen noch zerstört wird. Es gibt aber auch noch fundamentalere metaphysische Probleme mit dem Aktualismus. Wenn es keine Veränderung gibt, sondern nur Vernichtung und Neuentstehung, warum gibt es dann zumindest den Anschein einer Kontinuität? Warum wird Wasserstoff und Sauerstoff immer durch Wasser ersetzt und nicht durch etwas anderes, eine Vogel, einem Flugzeug, Superman oder durch gar nichts? Ohne ein persistierendes Substrat einer Veränderung wären die Dinge inhärent „lose und getrennt“ im Sinne von David Hume, so dass das Eine genauso gut erscheinen könnte, wie etwas Anderes. Doch ist dies nicht wirklich die Art und Weise, wie unsere Welt funktioniert. Jedes Stadium einer Veränderung erzwingt das, was darauf folgt und dies weist darauf hin, dass es etwas gibt, das weiterbesteht.

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